Berkeley
Malcolm saß in seinem vollgestopften Büro am Schreibtisch und hob den Kopf, als seine Assistentin Beverly zur Tür hereinkam. Hinter ihr folgte ein Mann von DHL mit einem kleinen Paket.
»Entschuldigen Sie die Störung, Dr. Malcolm, aber Sie müssen diese Formulare hier unterschreiben … Es ist diese Probe aus Costa Rica.«
Malcolm stand auf und ging um den Tisch herum. Seinen Stock benutzte er nicht. In den letzten Wochen hatte er eifrig daran gearbeitet, ohne Stock auszukommen. Er hatte zwar noch gelegentlich Schmerzen im Bein, war aber fest entschlossen, Fortschritte zu machen. Seine Physiotherapeutin, eine immerzu fröhliche Frau namens Cindy, hatte sich einen Kommentar dazu nicht verkneifen können. »Also, wirklich, Dr. Malcolm, nach all den Jahren sind Sie plötzlich motiviert«, hatte sie gesagt. »Was ist denn los?«
»Ach, wissen Sie«, hatte Malcolm erwidert, »ich kann mich doch nicht ewig auf den Stock verlassen.«
Die Wahrheit sah etwas anders aus. Angesichts von Levines unermüdlicher Begeisterung für die Hypothese von der Vergessenen Welt und seiner aufgeregten Anrufe zu jeder Tages- und Nachtzeit hatte Malcolm begonnen, seine Position noch einmal zu überdenken. Inzwischen glaubte er, daß es durchaus möglich, ja sogar wahrscheinlich war, daß an einem isolierten Ort, den man bis dato noch nicht in Erwägung gezogen hatte, ausgestorbene Tiere existierten. Malcolm hatte seine eigenen Gründe für diese Überzeugung, Gründe, die er Levine gegenüber bis jetzt nur angedeutet hatte.
Jedenfalls war es die Möglichkeit, daß eine zweite Saurierinsel existierte, die ihn dazu brachte, ohne Stock zu gehen. Er wollte sich auf einen Besuch dieser Insel vorbereiten. Und deshalb hatte er begonnen, täglich zu trainieren.
Er und Levine hatten die Suche auf eine Kette von Inseln vor der costaricanischen Küste eingegrenzt, und Levine war wie immer mit Feuereifer bei der Sache. Für Malcolm dagegen war das Ganze nur eine Hypothese.
Er weigerte sich, in Aufregung zu verfallen, bevor es stichhaltige Beweise – Fotos oder Gewebeproben – für die Existenz neuer Tiere gab. Und bis jetzt hatte Malcolm überhaupt noch nichts gesehen. Er wußte nicht recht, ob er darüber enttäuscht oder erleichtert war.
Aber auf jeden Fall war jetzt Levines Gewebeprobe angekommen.
Malcolm nahm dem Mann das Klemmbrett ab und unterschrieb schnell das oberste Formular: »Lieferung entnommenen Material/Proben: Biologische Forschung.«
Der Bote sagte: »Sie müssen die einzelnen Kästchen hier ausfüllen, Sir.«
Malcolm überflog die Liste der Fragen auf dieser Seite. Handelt es sich bei der Probe um ein lebendes Wesen? Um Bakterien, Pilze, Virus oder Protozoenkulturen? Ist die Probe in einem offiziellen Forschungsprotokoll registriert? Ist die Probe giftig? Stammt die Probe von einer Farm oder einer Viehzuchtanstalt? Handelt es sich bei der Probe um pflanzliche Substanzen, Saatgut oder Zwiebeln? Ist die Probe ein Insekt oder insektenähnlich? …
Er schrieb »Nein« in jedes Kästchen.
»Und die nächste Seite auch noch, Sir«, sagte der Bote. Er sah sich in dem Büro um, musterte die unordentlichen Papierstapel, die überall herumlagen, die Karten an den Wänden mit den farbigen Stecknadeln. »Machen Sie hier medizinische Forschung?«
Malcolm blätterte die Seite um und kritzelte seine Unterschrift auf das nächste Formular. »Nein.«
»Und noch eins, Sir …«
Das dritte Formular war eine Haftungsbefreiung für den Überbringer. Malcolm unterschrieb sie ebenfalls. »Einen schönen Tag noch«, sagte der Bote und ging.
Im selben Moment sackte Malcolm zusammen und stützte sich an der Tischkante ab. Er verzog das Gesicht.
»Schmerzen?« fragte Beverly. Er trug das Paket zu einem Beistelltisch, schob einige Papiere zur Seite und öffnete es.
»Geht schon.« Er sah zu dem Stock hinüber, der neben seinem Stuhl am Tisch lehnte. Dann atmete er tief durch und durchquerte langsam das Zimmer.
Beverly zog eben einen Stahlzylinder etwa von der Größe einer Faust aus dem Paket. Ein dreiblättriges Biogefahr-Zeichen war auf den Schraubdeckel geklebt. Unten an dem Zylinder war ein zweiter kleiner Behälter mit einem Metallventil befestigt, er enthielt das Kühlmittel.
Malcolm richtete eine Lampe auf den Zylinder und sagte: »Dann wollen wir mal sehen, was Richard so in Aufregung versetzt hat.« Er zerriß die Zollbanderole und schraubte den Deckel auf. Gas zischte heraus, dann schwacher weißer Kondensationsnebel. Die Außenhaut des Zylinders beschlug sich.
Er spähte hinein und entdeckte ein Plastiktütchen und ein Blatt Papier. Er kippte den Inhalt auf den Tisch. Die Tüte enthielt ein fransiges Stück grünliches Fleisch von etwa fünf Zentimetern im Quadrat, an dem ein kleiner grüner Plastikanhänger befestigt war. Er hielt ihn gegen das Licht, untersuchte ihn mit einer Lupe, legte ihn wieder auf den Tisch. Dann sah er sich die grüne körnige Haut an.
Vielleicht, dachte er.
Vielleicht.
»Beverly«, sagte er. »Rufen Sie Elizabeth Gelman vom Zoo an. Sagen Sie ihr, ich habe etwas, das sie sich ansehen soll. Und sagen Sie ihr, daß es vertraulich ist.«
Beverly nickte und verließ das Zimmer, um zu telefonieren. Als Malcolm allein im Zimmer war, rollte er das Papier auf, das mit in dem Zylinder gesteckt hatte. Es war ein gelber Zettel von einem Notizblock. In Druckbuchstaben stand darauf:
Ich hatte recht, und du hattest unrecht.
Malcolm runzelte die Stirn. Dieser Hurensohn, dachte er. »Beverly. Wenn Sie Elizabeth angerufen haben, versuchen Sie Richard Levine in seinem Büro zu erreichen. Ich muß sofort mit ihm sprechen.«